Die „Hexenburg“ in Bühlau-Stolpen

Kein Hexenwerk, sondern Zeugnis höchster sächsischer Industrie- und Baukultur im ländlichen Raum

365 Fenster, 52 Türen und 12 Tore soll sie einst gezählt haben – wie die Tage, Wochen und Monate eines Kalenderjahres. Verwitterte Inschriften, Steinmetzarbeiten und Klinkerdekor zieren die eigenwillige Bruchstein-Fassade. Wahrlich eine trutzige Erscheinung diese Vierflügelanlage am südöstlichsten Rand von Bühlau, an der alten Stolpen-Bischofswerdaer Straße! Aber eine „Hexenburg“?

Im Rahmen der Freiflächenplanung zum künftigen Ferienhof zeigte sich einmal mehr, dass intensives Quellenstudium lohnt. Entscheidende Grundlagen und Impulse für die authentische Entwicklung eines Kulturdenkmals, nicht nur für die Freiflächen, werden gewonnen. Die sagenumwobenen Gemäuer der sogenannten „Hexenburg“ entpuppten sich als Dampf-Mahl- und Schneidemühle mit Brotfabrik aus den 1850er Jahren, als seltenes Zeugnis sächsischer Industrie- und Baukultur im ländlichen Raum.

Trotz verschollener Baupläne gelang es uns, in akribischer Auswertung kartographischer und archivalischer Quellen die Eigentümerchronologie sowie Bau- und Nutzungsgeschichte dieses ungewöhnlichen Objektes auszuheben und wieder zusammenzufügen. Als der Guts- und Ziegeleibesitzer Carl Gottlieb Wustmann (1811-1884) am 08. Juli 1857 die Konzession für seine Unternehmung erhielt [1], konnte er nur ahnen, welche Betriebsamkeit er damit in das dörfliche Leben bringen würde. In einer Stellungnahme der Amtshauptmannschaft Pirna aus dem Jahre 1860 ist zu lesen: „Diesen Aufschwung verdankt das Dorf Bühlau der daselbst durch Carl Gottfried Wustmann in großartigem Maasstabe errichteten Dampf-Mahl-und Schneidemühle ingleichen Brodfabrik. Wegen der zu deren Betriebe bedeutenden Anfuhrn von Gerteide aller Art für die Dampfmahlmühle, Knochen für die Dampfknochenmahlmühle, Klötze für die Dampfschneidemühle und des benöthigten Feuerungs-Materials, ingleichen wegen der Abfuhren der fabricirten Producte an Brod, Mehl, Knochenmehl und Bretwaaren aller Art bewegt sich täglich sehr viel Fuhrwerk nach dieser Fabrik, so daß solches sehr oft nicht sofort dort expedirt werden kann, sondern längere Zeit auf das Auf- und Abladen warten muß.“ [2]

Der zukünftige Ferienhof vor der Burg Stolpen

Die Wustmannsche Dampfmühle mit Brotfabrik reiht sich in die industriellen wie gesellschaftspolitischen Neuerungen, die sich seit Erfindung der Dampfmaschine von England ausgehend verbreiteten und ist auf lokaler Ebene in Zusammenhang mit der Mahlnot und der Aufhebung des Mahlzwanges in den 1840er Jahren in Dresden zu sehen. Fünf Jahre nach Gründung der großflächig agierenden Bienert-Mühle in Dresden und über den Zeitraum eines Jahrzehnts gelang Carl Gottlieb Wustmann der industrielle Durchbruch in einer bislang dörflich geprägten Umgebung. Zugleich gibt die Dampfmühle ein eindrucksvolles personengeschichtliches Zeugnis. Ob Freimaurer oder nicht, der innovative, querdenkende Geist des Unternehmers Wustmann spricht aus der Architektur – und das nicht allein in Form des aus Klinkersteinen gebildeten Initials „W“ (und/oder stilisierten Maurerwinkels mit Zirkel) über den Tordurchfahrten. Die Verwendung lokaler Baumaterialien aus der eigenen Ziegelei, die Mehrfachnutzung von Dampfkraft für den Betrieb einer Mahlmühle, Schneidemühle und Knochenmühle, die Weiterverwendung der erzeugten Hitze in einer angeschlossenen Brotbäckerei und die Unterstützung eines benachbarten Bier- und Branntweinausschanks ist in ihrer Effizienz und Nachhaltigkeit geradezu fortschrittlich.

Bis heute zeugt die erhaltene Architektur von der Aufbruchsstimmung und dem Unternehmergeist dieser Zeit. Die Art der Verwendung von Bruchsteinen und Klinker gibt ein eindrucksvolles Beispiel der durch Funktion und ästhetischen Anspruch geprägten, neuen Architektur. Die industrielle Funktion einer durch Dampfkraft betriebenen Mühle zeigt sich in herrschaftlicher Außenwirkung – hieraus spricht der Stolz und Bedeutungsanspruch eines frühen sächsischen Fabrikanten. Unbestritten: Gebäudestruktur, Architekturästhetik und landschaftlich reizvolle Lage bieten das Potenzial zur Wiederbelebung als touristisches Ziel.

Auf dass das unternehmerische Feuer in diesem einzigartigen Objekt bald wieder strahlen werde!


Hofansicht des sanierten Nordostflügels

[1] Hauptstaatsarchiv Dresden, 11377 Akten der Abteilung des Ministeriums des Innern, AV-4, MDI Nr. 5950, Blatt 208: Anzeigen über neue Fabriken 1844-1861.

[2] Hauptstaatsarchiv Dresden, 10747 Kreishauptmannschaft Dresden, Nr. 1938: Acta, das Schankwesen in Bühlau betreffend. Ergangen von der Königl. KreisDirection zu Dresden. 1851-60. Blatt 26 f.